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Madonna, hilf!

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Richie, der beste Ehemann von allen, hat das Madonna-Buch wiedergefunden. Nicht dass er es gesucht hätte. Nein, Richie hat einfach ein paar alte Kisten aus dem Keller geborgen, und dabei fand er «SEX», diesen Bildband, mit dem die bekannte Pop-Künstlerin Madonna vor rund 20 Jahren gegen die Prüderie antreten wollte und der zu einem der erfolgreichsten Coffee Table Books aller Zeiten wurde. Das Exemplar aus unserem Keller ist noch eingeschweisst, mit einer wollüstigen, von Steven Meisel stark überbelichteten Madonna vorne drauf (und mutmasslich auch hinten). Und mit einer Warnung in Grossbuchstaben: «This book conaints adult material and its exterior packaging reflects the controversial and sensitive nature of what is inside.»

Ah, Sex. Ich meine: SEX. Ich weiss noch, wie dieses Buch, das heute irgendwie ziemlich angejahrt erscheint (was es ja auch ist), damals für Furore sorgte, in ein paar Ländern verboten wurde und so weiter. Das Buch ist in vielerlei Hinsicht in der Tat ein Meilenstein: einerseits, was die Inszenierung von Sex angeht, die heute Teil der Middle-of-the-Road-Kultur ist (oder scheint), andererseits für die Sexualisierung überhaupt und die damit verbundenen Ansprüche an das arme, geworfene Subjekt, den Selbsterschaffungs- und Selbstperfektionierungswahn der Celebrity-Gesellschaft. Oder die Verlorenheit des Selbst an die Banalitäten des Daseins, falls man Wert darauf legt, sich wie Martin Heidegger auszudrücken.

Und Madonna? Hat sich seit ihrer Sex-Phase ein paar Mal mehr gehäutet und ist heute einerseits ein Sinnbild für wirkliche Berühmtheit, alterslos und wegweisend und länger als 15 Minuten gültig, und anderseits – nicht. Obschon Madge selbst wohl eher ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser ganzen Sex-Sache hat (2002 soll sie eine Neuauflage von «SEX» als Taschenbuch zum zehnjährigen Jubiläum verhindert haben), so teilt und verkörpert sie doch andererseits augenscheinlich die Körpernormen und Körperobsessionen der Celebrity-Gesellschaft. Jedenfalls soll unter anderem ihre Trainingsbesessenheit ein Grund für die Trennung von Ehemann Guy Ritchie gewesen sein, auch angedeutet in dessen mutmasslichem Bonmot, Sex mit Madonna sei wie «Schmusen mit einem Stück Knorpel». Und so hat Madonna auch Teil am Fluch der Celebrity-Gesellschaft: Alle Vorkehrungen, auch die radikalen und rabiaten, können das Alter und Ende nicht aufhalten, und so wird alles immer mehr eine Frage der Beleuchtung, und wenn die ungünstig ist, so wie letztes Jahr auf irgendeinem roten Teppich, dann sieht Madonna eben aus wie 55. Oder schlimmer? Letzteres scheint unter anderem die Autorin und Journalistin Karen Krizanovic anzudeuten. Die war in den Neunzigern, als das «SEX»-Buch rauskam, unter anderem als Agony Aunt für das «Sky Magazine» tätig – die beste Sorgentante, die ich je gelesen habe. Kann sich jemand noch an «Dear Karen» erinnern? Ich hoffe es! Anyways, Frau Krizanovich sagte unlängst über Madonna: «That old adage of ‹you get the face you deserve› is starting to come true ... you can look at her face and you can see that there is no warmth there, that there is no deep caring, that there is only that sort of whistling darkness of her inner self. Without fame, there is nothing there, there is only a cavern.»

Das mag so sein oder auch nicht. Es mag auch sein, dass sich hinter dem Charisma vielleicht nur ein kleiner Geist mit massiven Wissenslücken verbirgt (was gar nicht so selten ist bei Charismatikern). Und dass vieles nur Pose ist und das Madonnas Entwicklungshilfe in Malawi den typischen Pannen des Charitainment erlag, Ineffizienz allen voran. Das mag alles sein. Und trotzdem brauchen wir den Knorpel. Madge ist reich und weltberühmt, und sie macht den Mund auf, wenn sie findet, dass die Welt verbesserungswürdig ist. Es gibt genügend reiche und/oder weltberühmte Leute, die das nie tun, und deshalb brauchen wir Madge. Man kann immer Gier nach Aufmerksamkeit unterstellen, wenn Madonna sich «Pussy Riot» auf den Rücken schreibt oder malawische Kinder adoptiert – aber dieser Einwand ist billig und völlig unbeachtlich, entscheidend ist: Madonna tut es, sie bewirkt etwas damit, und wenn sie nur die Augen der Welt für einen Moment öffnet, hat sie bereits unendlich viel mehr getan als die meisten, die sich über sie mokieren. Wir brauchen Madge, und wir hoffen, dass sie noch lange weiter macht. Zum Beispiel gerade jetzt, da das russische Parlament die Diskriminierung von Homosexuellen zur offiziellen Politik erheben will. Der Kampf geht weiter.


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